„Lebensmittel wieder als Naturprodukte begreifen“

von | 03. Dez 2021 | Hintergründe | 0 Kommentare

Die Verbraucherzentrale NRW engagiert sich mit Aufklärung gegen die Lebensmittelverschwendung, unter anderem indem sie versucht, auf die Politik einzuwirken. Vor einiger Zeit haben wir eine Stellungnahme der Verbraucherzentrale in diesem Blog zusammengefasst. Ihr wollt noch mehr zu den Hintergründen der Verschwendung und der Rolle von Handel und Gesetzgebung erfahren? Dann lest dieses Interview mit Frank Waskow, dem Autor der Stellungnahme:

 

Die Lebensmittelverschwendung in Deutschland ist enorm, darauf weist ja auch die Verbraucherzentrale NRW sehr deutlich hin. Warum unternimmt die Politik so wenig dagegen?

Die Landwirtschaft und die Ernährungswirtschaft haben in Deutschland eine besonders große Lobby, die stärkste überhaupt neben der Automobilindustrie. Da tut sich die Politik schwer, egal, wer an der Regierung ist.

Da nützt es auch wenig, dass die EU für ihre Mitgliedsländer einen ehrgeizigen Fahrplan zur Reduzierung von Lebensmittelverschwendung entworfen hat: Als Zwischenziel sollen bis 2025 30 % Verringerung erreicht werden. Wenn die Maßnahmen nicht verbindlich und effektiv genug sind, um dieses Ziel zu erreichen – und das sind sie in Deutschland eindeutig nicht –, wird es wohl Vorgaben von der EU geben.

Der Handel spielt eine entscheidende Rolle bei der Verschwendung, nicht wahr?

Der Handel steuert, was verkauft wird. Die ganze Kette der Lebensmittelproduktion ist von ihm abhängig. Wenige große Unternehmen – die großen Handelsketten und Lieferdienste – machen in Deutschland den Löwenanteil des Handels aus, die Kleinen haben keine Marktmacht. Kartellrecht findet quasi nicht statt.

Was in die Regale kommt, bestimmen also maßgeblich die Großen. Früher hat die EU vieles vorgegeben, etwa dass Gurken gerade sein sollten. Viele solche Vorgaben gelten längst nicht mehr, trotzdem findet man bis heute kaum krumme Gurken in den Supermärkten, um bei diesem Beispiel zu bleiben.

Einige Supermarktketten verkaufen jetzt krumme Möhren extra im Beutel. Aber so ist die Welt nicht, in der Natur kommen eben die verschiedensten Formen vor. Lebensmittel sollten wieder als Naturware verstanden werden.

Sinnvoll wäre, konsequent die Natursortierung als Klasse I oder II zu vermarkten. Dann könnten die Landwirte weniger anbauen – denn im aktuellen System müssen sie sehr viel aussortieren und dadurch insgesamt zu viel produzieren. Man könnte sagen: Unser Luxus ist das Wegwerfen.

„Sinnvoll wäre, konsequent die Natursortierung
als Klasse I oder II zu vermarkten.“

Gibt es denn Hoffnung, dass sich etwas verändert?

Ewig kann es so nicht weitergehen. Die Landwirt:innen schaffen es immer weniger, auf diese Weise zu überleben. Pflanzenschutzmittel, Dünger und Diesel werden immer teurer. Sie arbeiten überproportional viele Arbeitsstunden, um Erlöse zu erzielen. Wer danach überhaupt ein nennenswertes Gehalt hat, steht noch gut da. Das können nur die ganz Großen.

Immer noch fördern die EU-Subventionen zu 75 % Fläche, so dass Großbetriebe immer im Vorteil sind. Nur 25 % der Subventionen sind an ökologisch-gesellschaftliche Leistungen gebunden. Das ist viel zu wenig.

Im Speckgürtel der Großstädte können die kleinen Landwirtschaftsbetriebe vielleicht ein Auskommen finden. Viele gehen in die Direktversorgung, eröffnen Hofläden etc. Da gibt es erfolgreiche Modelle. Aber auf dem Land ist das nichts. Die Betriebe dort liefern an die Großen oder machen etwas ganz anderes.

Das wird zunehmend auch ein Problem für den Handel. Der Handel bekommt fast nur noch Ware von den ganz großen Betrieben, was übrigens auch zu einem langweiligen Sortiment führt – es gibt kaum noch besondere Gemüsesorten. Wenn ganze Landstriche in Deutschland ausfallen wie in den letzten zwei Jahren, zum Beispiel in Brandenburg mit den großen Dürren, dann kaufen sie woanders in der Welt ein. Aber das wird allein wegen des Klimawandels auf Dauer nicht gehen. Es gibt immer weniger Wasser, die Entsalzung ist teuer usw.

Langfristig wird dadurch wohl erst einmal alles teurer, und irgendwann kommt das Aussortierte doch mit in den Verkauf. Ich hätte das aber lieber früher, damit die Systeme sich darauf einstellen können.

In anderen Ländern gibt es doch gute Ansätze, oder? Zum Beispiel in Frankreich, wo Supermärkten das Wegwerfen von Lebensmitteln verboten wird.

Das Gesetz in Frankreich funktioniert leider nicht so gut, wie es klingt. Die Zahlen sind kaum rückläufig. Es gibt leider kein Patentrezept.

Zur Entwicklung in Frankreich: Dort verpflichtet das Gesetz Supermärkte mit einer Ladenfläche von mehr als 400 Quadratmetern, unverkaufte Lebensmittel an örtliche Tafeln oder andere gemeinnützige Organisationen zu spenden. Doch längst nicht alle Geschäfte halten sich daran. Mit einer Klage auf hohe Strafzahlungen versuchen Aktivist:innen, die Märkte zum Handeln zu zwingen. Pro Vergehen droht eine Geldstrafe von 3750 Euro – sofern es denn jemand aufdeckt und klagt. Eine Kontrollinstanz gibt es nämlich nicht.

Die französischen Tafeln erhalten inzwischen über 50.000 Tonnen Lebensmittelspenden vom Handel. Klingt viel, doch das sind gerade einmal 10 % der Spenden an die deutschen Tafeln. Und das, obwohl in Frankreich 14 % aller Lebensmittelabfälle im Handel anfallen, und in Deutschland laut Angaben der Händler lediglich 4 %.

In vielen Entwicklungsländern hat man zusätzlich das Problem, dass Infrastruktur für Kühlung und Transport fehlt, auch dadurch wird viel verschwendet. Weltweit wird ein Drittel der produzierten Lebensmittel weggeworfen, und die Ackerflächen nehmen einen wesentlichen Anteil der Landflächen ein. Das können wir uns als Menschheit auf lange Sicht nicht leisten.

In der Gesellschaft entsteht immer mehr Bewusstsein für Nachhaltigkeit. Zwingt das nicht auch den Handel zu Veränderungen?

Dass die Wertschätzung für Nachhaltigkeit und gesunde Lebensmittel bei den Verbraucher:innen steigt, ist gut und sehr wichtig. Hier sollte noch viel mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden, beginnend in Kitas und Schulen. Bei konkreten Veränderungen muss die Gesetzgebung aber gestaltend mitwirken, sonst kann es sogar nach hinten losgehen.

Beispiel: Immer mehr Menschen möchten, dass Obst und Gemüse weniger mit Pestiziden belastet ist. Manche Handelsketten geben deshalb vor, dass von einem Pestizid nur noch eine bestimmte Menge eingesetzt werden darf, etwa bei Äpfeln. Die Erzeuger:innen müssen darauf reagieren, und sie sagen zurecht: Wenn ich von diesem Stoff weniger nehme, wirkt der nicht mehr so gut. Um trotz der geringen Dosis dieselbe Wirkung zu erzielen, nehmen sie dann fünf weitere Stoffe hinzu, ebenfalls jeweils in Mengen, die unter dem Grenzwert liegen. Man weiß aber: Stoffe zu mixen, ist nicht gut, weil man die Kombiwirkung auf Mensch und Natur nicht kennt. Außerdem können sich Resistenzen einstellen, so ähnlich wie wenn man von Antibiotika nur einen Teil der Packung nimmt.

In diesem Fall ist es also ein Trugschluss, dass niedrigere Grenzwerte Menschen und Umwelt schützen. Der Gesetzgeber lässt sich hier die Butter vom Brot nehmen. Es müsste vielmehr ein gesundheitliches Vorsorgeprinzip gelten. Man könnte sagen: Die Anzahl der Wirkstoffe wird insgesamt begrenzt. Das wird aber nicht gemacht.

Was schlagen Sie vor, wie könnte es besser werden?

Ein Vorschlag wäre: Wir erheben in den verschiedenen Branchen, wie viele Lebensmittelabfälle dort anfallen, und belegen die Abfälle mit einer Abgabe. Diese Abgabe verringert sich entsprechend der Reduzierung der Lebensmittelabfälle. Verringert ein Unternehmen seine Abfälle um ein Viertel, muss es nur noch die Hälfte der Abgabe zahlen; erreicht es eine Halbierung, entfällt die Abgabe. Mit den Mitteln könnten Instrumente gegen Lebensmittelverschwendung und die Kontrollen finanziert werden. Dann würde die Verschwendung schnell zurückgehen.

Man müsste sich alle Branchen angucken: Was ist „Best” oder „Good Practice“, was mittel, was schlecht? Wie viele Lebensmittelabfälle sind akzeptabel? Alle müssten mindestens mittel sein. Sonst gibt es Konsequenzen, egal welche.

Am Ende liegt es an der Gesetzgebung, die Weichen umzustellen. Wir hatten zehn Jahre Deregulierung, es wurde ausschließlich auf Freiwilligkeit gesetzt, aber die funktioniert ganz offensichtlich nicht. Stattdessen brauchen wir klare Leitplanken in ganz vielen Bereichen. Von alleine setzt sich immer der Markt und der schnelle Euro durch und nicht die gute Lösung.

Es gibt gute Instrumente, die müsste man einfach einmal nutzen.

 

Frank Waskow ist Experte für Lebensmittelqualität und Nachhaltigkeit bei der Verbraucherzentrale NRW. Zuvor war er als Referent für eine Bundestagsfraktion tätig, hat in der Umwelt- und Ernährungsforschung und als Einkäufer in der Lebensmittelindustrie gearbeitet.

 

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